94-jähriger Holocaust-Zeitzeuge Abba Naor erzählt am MTG über seine Erlebnisse

“Das Leben ist eine feine Sache – obwohl ich so schlimme Dinge erlebt habe”, mit dieser überraschenden Botschaft eröffnet Abba Naor seinen Zeitzeugenbericht über seine Erlebnisse während der NS-Diktatur. Mit Blick auf die Gegenwart betont er: “Aber das Leben bleibt nur eine feine Sache, wenn man das Richtige entscheidet. Nutzt euer Leben! Ihr lebt in einem freien Land. Aber es wird nur immer so sein, wenn ihr es so entscheidet. Manche sagen heute wieder, früher sei alles besser gewesen. Vor diesen Menschen will ich euch warnen. Es sind falsche Propheten.” Der heute 94-Jährige ist einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen des Holocausts. Er ist seit über 20 Jahren viel unterwegs und besucht regelmäßig Schulen, um den jungen Menschen von seinen Erlebnissen als Opfer des NS-Terrors zu erzählen. Er sagt: „Es ist nicht leicht darüber zu sprechen, aber die Wahrheit muss erzählt werden.“ Nun war er zum dritten Mal am MTG zu Gast und sprach dort mit über 100 Schüler:innen der 9. Jahrgangsstufe. Während der über zweistündigen Erzählung hörten sie gebannt und konzentriert zu.

Es ist eine bewegende, persönliche Geschichte voller grausamer Details, die Abba Naor erzählt. Von einem Tag auf den anderen bricht der Terror der Nationalsozialisten in das Leben des 13-jährigen litauischen Jungen und seiner Familie ein. Die deutsche Wehrmacht erreicht im Juni 1941 Litauen. Dort leben zu dieser Zeit rund 250.000 Juden. „Nur rund vier Prozent von ihnen werden die kommenden vier Jahre überleben“, sagt Naor. Das sind weniger als 10.000. Und von den rund 60.000 jüdischen Kindern in Litauen werden sogar nur rund 350 überleben. Einer davon ist Abba Naor. Er sagt: “Ich frage mich jeden Tag, warum ich überlebt habe. Es war ganz zufällig. Man hatte keine Wahl.” Bereits kurze Zeit nach dem Einmarsch wurde die jüdische Bevölkerung Litauens, aber auch aus anderen Teilen des Deutschen Reiches z.B. aus München sowie aus anderen besetzen Gebieten in Ghettos zusammengetrieben. Die meisten von ihnen wurden bei Massenerschießungen getötet. Bereits im Februar 1942 meldeten die deutschen Besatzer über 138.000 getötete Juden. Unter ihnen war auch der 14-jährige Bruder Abba Naors. Er war beim Einkaufen erwischt worden, was den Juden verboten war. 1943 wird das Ghetto in der litauischen Stadt Kaunas, in der Naor mit den verbliebenen Familienmitgliedern lebt, in ein Konzentrationslager umgewandelt. Im Juli 1944 wird es geschlossen und großteils verbrannt. Die meisten dort inhaftierten Juden werden nach Auschwitz deportiert und ermordet – darunter Naors Mutter und sein jüngerer Bruder. Am 26. Juli 1944 sieht er sie zum letzten Mal. Naor sagt: „Wäre das Stauffenberg-Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gelungen, wären meine Mutter und mein Bruder womöglich am Leben geblieben.“ So sterben sie noch am Tag ihrer Deportation.

Der 15-Jährige selbst wird mit seinem Vater über Umwegen in eines der Arbeitslager nach Deutschland verschleppt. Naor landet zunächst in Utting am Ammersee und später in Kaufering. Dort mussten sie ein Außenlager des KZ-Dachaus errichten, um vor Ort Betonplatten für die Kriegsindustrie herzustellen. In 12-Stunden-Schichten, ohne Trinken oder Verpflegung während der Arbeit. Am Abend gab es eine dünne Suppe – aber nur wenn man es schaffte, die Suppentasse in einem bestimmten Winkel auf den Topf zu stellen. „Vernichtung durch Arbeit“ nannten das die NS-Schergen. In zehn Monaten sterben in den elf Außenlagern des KZ-Dachaus rund 22.000 Menschen aufgrund der unmenschlichen Bedingungen. Das Kriegsende erlebt Abba Naor auf einem der Dachauer Todesmärsche. Die verbliebenen Inhaftierten des KZ-Dachaus und seiner Außenlager wurden vor der heranrückenden US-Armee Richtung Süden getrieben und schließlich von den Amerikanern am 2. Mai 1945 in der Nähe von Warngau bei Miesbach befreit.

Am Ende des Vortrags gibt er noch einen sehr persönlichen Einblick in seine Motivation, seine Geschichte immer wieder zu erzählen: “Warum gehe ich in die Schulen? Weil ich dort über meine Familie sprechen kann. Dann spüre ich meine Familie bei mir. Solange ich lebe und über sie reden kann, leben sie auch.”